St. Galler Tagblatt: 31. Mai 2010 (Interview: Brigitte Schmid-Gugler)

Das Unvereinbare nicht erzwingen


Vica Mitrovic mahnt zu Besonnenheit und Dialogbereitschaft unter Berücksichtigung der Bedürfnisse beider Kulturen. Im Zusammenhang mit der Empörung um die geplante «theatrale Ausstellung» von Milo Rau zum Mord am Lehrer Paul Spirig kamen viele Parteien zu Wort. Nur eines fehlte: die Stellungnahme des Kulturkreises der Kosovo-Albaner. Sie wollen sich nicht öffentlich dazu äussern.



Vica Mitrovic, weshalb, denken Sie, bringt sich der betroffene Kulturkreis der Kosovo-Albaner nicht in die Diskussion um das geplante Theaterprojekt ein, und was könnte der Grund dafür sein, dass ausser Ihnen alle vier zu diesem Gespräch eingeladenen, aus Kosovo stammenden Personen abgesagt haben?

Vica Mitrovic: Um es vorwegzunehmen: Ich finde es bedauerlich, dass das Projekt abgeblasen wurde. Man hätte verhandeln und eben gerade diese Unvereinbarkeit aufzeigen müssen, die bis heute zwischen den beiden Kulturen besteht. Dort dürften auch die Hauptgründe zu finden sein, weshalb Menschen aus Kosovo-Albanien nicht öffentlich Stellung beziehen zu dem Projekt. Sie haben Angst!

Wovor haben sie Angst?

Mitrovic: In ihrem Kulturkreis ist das Thema sehr wohl auch noch nicht verarbeitet, nur wird ganz anders darüber gesprochen als unter Schweizern. Die Traditionen sind tief verwurzelt und nicht einfach so auszurotten, wenn man in einem anderen Land lebt. Zur Frage nach der Schuld/den Schuldigen gibt es bis heute zwei Versionen. Wer die «falsche» Version vertritt, gilt als suspekt, wird angefeindet

Das heisst, man muss aufpassen, was man in der Öffentlichkeit sagt?

Mitrovic: Ja, wer Stellung bezieht und unter Umständen eine Haltung verteidigt, die den Traditionen entgegenläuft, verliert möglicherweise den Rückhalt in der Gemeinschaft. Wer also beispielsweise behauptet, Ded Gecaj müsse ein für alle Mal für die ihm vorgeworfenen Verbrechen büssen, der begibt sich auf dünnes Eis. Denn in diesem Punkt sind sich bis heute noch lange nicht alle Kosovo-Albaner einig. Wenn im Zusammenhang mit dem Bühnenprojekt von Werteverschiebungen, Migration und verpasster Integration gesprochen werden soll, dann würden die Kosovo-Albaner fordern, dass man ihre tief verwurzelte Kultur und die Gesetze des Kanuns achtet – auch wenn diese, in eine andere Kultur verpflanzt, teilweise auf eine pervertierte Art gelebt werden. Das oberste Gesetz aber lautet: Das Sprechen über familiäre und sexuelle Angelegenheiten ausserhalb der Familie ist verboten. Die Familie ist absolut autonom! Wer dieses Gesetz missachtet, entwürdigt, verletzt die tiefsten Gefühle. Dieser Kodex ist sehr viel stärker in den Köpfen verankert als jede auf Vernunft und mündigem Denken basierende Argumentation.

Aber das ist grotesk! Man darf doch nicht über Inzest hinwegschauen – Familie hin oder her!

Mitrovic: Es geht nicht darum, dass dieses Tabu nicht berührt werden darf, sondern darum, wie man es tut. Ich will Ded Gecaj auf keinen Fall in Schutz nehmen – nur: In diesem Fall ging von Anfang an so vieles schief in der Kommunikation. Und als jemand, der fast täglich mit Familienkonflikten in Migrationskreisen der Ex-Jugoslawen und Kosovos konfrontiert ist, sehe ich ein, dass er, die Familie mit ihrem kulturellen Hintergrund die Integrations- und Verständigungsbemühungen des Gastlandes selbst als Übergriffe empfanden. Aus westlicher Optik klingt das arrogant: Man hat mit menschlichen Ressourcen alles mögliche getan, um dieses Mädchen zu retten. Für ihr eigenes Volk indes ist und bleibt es verloren.

Sie wollen damit sagen, die beiden Kulturen sind und bleiben unvereinbar?

Mitrovic: Ja, wer Stellung bezieht und unter Umständen eine Haltung verteidigt, die den Traditionen entgegenläuft, verliert möglicherweise den Rückhalt in der Gemeinschaft. Wer also beispielsweise behauptet, Ded Gecaj müsse ein für alle Mal für die ihm vorgeworfenen Verbrechen büssen, der begibt sich auf dünnes Eis. Denn in diesem Punkt sind sich bis heute noch lange nicht alle Kosovo-Albaner einig. Wenn im Zusammenhang mit dem Bühnenprojekt von Werteverschiebungen, Migration und verpasster Integration gesprochen werden soll, dann würden die Kosovo-Albaner fordern, dass man ihre tief verwurzelte Kultur und die Gesetze des Kanuns achtet – auch wenn diese, in eine andere Kultur verpflanzt, teilweise auf eine pervertierte Art gelebt werden. Mitrovic: Das müsste das Thema sein: wie Integration verstanden wird, wo sie möglich und wo überhaupt nicht möglich ist. Das kann aber unmöglich ausschliesslich auf der Bühne verhandelt werden. Wenn in diesem Fall Erhellung, ein gegenseitiges besseres Verstehen angestrebt werde soll, dann muss das Theater zu den Leuten gehen, in Kosovo-Clubs, -Vereine und -Zentren. Diese Leute gehen mit Sicherheit nicht ins Theater. Dort werden Probleme und Folgen einmal mehr auf der Ebene aufgeklärter und gebildeter Bürger isoliert, die kaum direkt berührt werden vom Alltag, den innerfamiliären Lebensumständen der Migranten. Wie dieser Fall zeigt, zelebrieren Menschen beider Kulturen ihr Leiden. Aber ich meine, dass es kein «St. Galler Fall» sein muss und darf. Soll das Stück integrationsfit sein, dann reicht es weit über den expliziten Fall hinaus und hat so auch seine Notwendigkeit und Legitimation. Seit es Theater gibt, werden auf der Bühne gesellschafts- und kulturpolitische Stoffe – und Morde – verhandelt. So etwas unterbinden zu wollen, ist entweder Diktatur oder dann sehr provinziell

Wird denn in Kreisen der Kosovo-Albaner über die Polemik, die das geplante Stück in Gang gesetzt hat, gesprochen?

Mitrovic: Natürlich! Aber ein Einzelner traut sich nicht, sich dazu in der Öffentlichkeit zu äussern. Er hat nichts zu sagen. Die Gruppe, die Horde, die Clans zählen. Daran gibt es nichts zu rütteln. Die jungen Leute haben für ihre Kommunikation längst das Netz entdeckt. Dort wird heftig diskutiert! Und es offenbart einmal mehr die Ohnmacht, die Verwirrung, welche Migration zwischen den Generationen stiftet.

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