St. Galler Tagblatt: 24. Juni 2010 (Malolo Kessler)

Der erste «Jugo» im Parlament


Er bezeichnet sich selbst als «Jugo», St. Gallen als seine Heimat und die politische Sprache als balkanisiert. Im St. Galler Stadtparlament will sich SP-Politiker Vica Mitrovic für die Interessen von Migranten einsetzen.

In St. Gallen will er sterben, in Serbien will er begraben werden. Ein Satz, stellvertretend für zwei Seelen. Jene zwei Seelen in der Brust von Vica Mitrovic, seit Anfang Juni im St. Galler Stadtparlament. Der 49jährige SP-Mann ist für den zurückgetretenen Roland Gehrig nachgerückt. Geboren wurde Mitrovic in Ostserbien. An der Universität Belgrad studierte er Politische Wissenschaften, bevor er 1986 in die Schweiz kam, um seinen Cousin zu besuchen. Hier blieb er hängen. Nach einigen Jahren als Hilfsarbeiter in Fabriken wurde er Sekretär der Gewerkschaft GBI/Unia St. Gallen und Wil. In dieser Zeit sei er auch in die Politik hineingerutscht, sagt Mitrovic. An einer Podiumsdiskussion in Wil lernte er Barbara Gysi kennen und trat der SP bei. «Sie ist eine zugängliche Politikerin, meine politische Mentorin», sagt Mitrovic. Das linke Gedankengut liegt dem gebürtigen Serben nahe. Schon als er noch in Serbien lebte, sei er Mitglied der dortigen Kommunistischen Partei gewesen, habe sich stark mit sozialen Themen beschäftigt. Seit 2003 wohnt Mitrovic in St. Gallen. Seine Heimat, sagt er. Eine Stadt mit Seele. Nun will Mitrovic frischen Wind ins Stadtparlament und ein Hauch von Balkan ins Waaghaus bringen.

Kleinklassen-Kind als Schande

«Ja, jetzt habt ihr einen ‹Jugo› im Stadtparlament», sagt Mitrovic, grinst erst ein bisschen spitzbübisch und lacht dann. Er hat kein Problem damit, wenn ihn Schweizer so nennen. Und noch weniger hat er ein Problem damit, sich selbst und seine Landsleute aus dem ehemaligen Jugoslawien so zu nennen. Das Wort kommt bei jedem zweiten Satz über seine Lippen. Und wenn es nicht «Jugo» ist, dann ist es «balkanisiert». Als letzteres bezeichnet er beispielsweise die politische Sprache. «Früher», sagt er, «war sie sehr schön, sehr gepflegt.» Heute seien die Umgangsformen rauher, die Worte schärfer. «Typisch ‹Jugo›» war für Mitrovic auch seine erste Parlamentserfahrung. Eigentlich eher eine Beinahe-Erfahrung. Denn die Sitzung vom 8. Juni fiel aus. Der Grund: Die Parlamentarier waren an die Feier des neuen Kantonsratspräsidenten Walter Locher eingeladen. «Feiern geht also vor», sagt Mitrovic und lacht. Im Parlament will er eine Diskussion über Kleinklassen ins Rollen bringen. «Eine schlechte Sache für Migranten.» Wenn ein «Jugo» in einer Kleinklasse unterrichtet werde, gelte das als Schande für die Familie, als Schande in der Gemeinschaft. Der gebürtige Serbe, seit 1998 eingebürgert, will auch Migrantenvereine unterstützen, ihnen dabei helfen, das Vereinsrecht zu verstehen und Lokale zu finden. Und nicht zuletzt möchte Mitrovic auch ein Vorbild für junge Migranten sein. Er möchte zeigen, dass es auch ein «Jugo» ins Parlament schaffen kann und andere «Jugos» ermutigen, in die Politik einzusteigen.

Deutsch lernen als Obligatorium

Stillsitzen und schweigen liegt Mitrovic nicht. Seine Hände unterstreichen seine Worte, er spricht schnell, mit Akzent. Und wenn er sich eines Wortes nicht sicher ist, fragt er rasch nach, um dann gleich wieder weiterzusprechen. Nebst Deutsch spricht er Serbisch, Russisch, Rumänisch und Kroatisch. Die Sprache ist für ihn die Grundlage, sich in einer Gesellschaft zu bewegen. «Daher soll, wer in die Schweiz kommt, zwangsweise Deutsch lernen.» Der Staat solle dafür die Kosten übernehmen. Wenn Mitrovic nicht politisiert, nicht für seine Beratungsfirma Mitra GmbH arbeitet, sich für den runden Tisch der Religionen engagiert oder Zeit mit seinem Sohn verbringt, dann schreibt er. Ein Buch hat er bereits veröffentlicht. Momentan arbeitet er an seinem zweiten. Das Thema, wenig überraschend: Migration. «Es ist eine typische Migrationsgeschichte», sagt Mitrovic. Es gehe um das Abseitsstehen, das Dazwischensein. Um die zwei Seelen. Jene zwei Seelen, die er selbst nur allzu gut kennt.

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