23. Novembar 2019 (Era Shemsedini)

Fragen an Vića Mitrović


Interview von Era Shemsedini (Eine angehende Maturantin mit kosovarischen Wurzeln)

1. Was glauben Sie, definiert sich ein Migrant aus Ex-Jugoslawien mit Schweizerpass eher durch seine Nationalität oder durch seine Herkunft? Warum?

Ich bin mir völlig sicher, dass beides wichtig ist. Man hat einerseits die Herkunft und die Herkunft als solche ist enorm wichtig, denn der Mensch hat sein soziales Wesen, seine Umgebung, seine Gedanken, seine Mentalität, seine Sprachen, allgemein seine Kultur, die er mitnimmt. Gleichzeitig dieser Ex- Jugoslawische Raum, wenn man die Geschichte in den letzten hundert Jahren oder insbesondere in den letzten zwanzig oder dreissig Jahren anschaut. Die Leute sind einfach enorm auf diesen begrenzten nationalistischen Teil fokussiert, was eigentlich auch wichtig ist. Es ist nicht einfach zu beantworten, was eine Nation ist. Die Schweiz definiert sich nicht als Nation. Im Balkanraum ist diese enorm wichtig und deswegen dockt ein Mensch, der aus diesem Balkan oder dem ex jugoslawischen Raum kommt, diese an. Er sagt, dass die Herkunft wichtig ist. Sein Dorf, seine Umgebung, die Gegebenheiten dort und somit auch seine Nation. Die Serben reden über die serbische Nation, die Albaner über die albanische Nation und die Kroaten über das Kroatentum. Also beides nimmt ein Migrant, der in der Zwischenzeit Schweizer geworden ist, mit sich mit. Insbesondere Migranten und Migrantinnen der ersten Generation, die zeigen das sozusagen „aggressiver“ respektive es ist wahrscheinlich auch normal, dass ein Mensch aus der ersten Generation, der in die Migration geht, es nicht so einfach hat, bis er zu einer Wandlung kommt, bis er sich definitiv entscheidet, ob er hier bleibt oder dort. Es ist kein einfacher Prozess. Ich sage immer, dass Migrationsgeschichten manchmal sehr traurig sein können, aber das geben wir nicht zu. Insbesondere im Balkanraum tendieren wir dazu, uns immer die schönen Sachen schönzureden. Bei einer Sonne und einem Baum gibt es immer zusätzlich auch einen Schatten, davon reden wir oft nicht. Also wie sehe ich das konkret. Ein Mensch aus dem ex jugoslawischen Raum schaut eher, obwohl er eingebürgert ist, Tagesschau aus Priština, aus Belgrad, aus Bosnien und das Wetter aus Bosnien, als zum Beispiel fünf Minuten von „10vor10“ und deswegen behaupte ich, dass dieses Bedürfnis innerlich da ist. Ich rede über eine soziologische Betrachtung, die ich sehe. Ich sage nicht, dass das falsch oder richtig ist. Nationalität und Herkunft, beide gehen irgendwie parallel zusammen.

- Das heisst konkret Sie glauben, dass die Nationalität sowie auch die Herkunft gleich gewichtet sind. Beide Elemente sind gleich wichtig für eine Person?

Ja richtig

- Wenn wir jetzt auf die Strasse gehen würden und jemanden fragen „Woher kommst du?“, was würden Sie antworten?

Die nennen sofort, sehr wahrscheinlich, das Land, aus dem Sie herkommen, weil sie auf dieses Nationalstaatgebilde fokussiert sind, was die Schweizer nicht so ganz richtig verstehen. Der Staat, hier in der Schweiz, definiert sich nicht durch eine Nation. Es war nicht wichtig, welche Sprache im Hintergrund stand oder welchen anthropologischen Hintergrund man hatte, welche Farbe oder welche Religion, sondern hier war ein wichtiges Dokument, die Verfassung, entscheidend. Das war der Anhaltspunkt, an welchem die Menschen zusammenkamen und man hat die Schweiz vereint gegründet. Bei uns ist im Vordergrund das Albanertum, das Serbentum, das Kroatentum, der Katholizismus, der Islam oder der Kanun usw. Hier in der Schweiz sagt man, interessiert mich nicht, von welcher Sippe du kommst, wenn du eine Leistung bringst, kannst du Hörner auf dem Kopf haben, ist nicht mein Problem. Da sieht man, wie die Systeme anders sind, nicht kompatibel, und das ist meine Erklärung, warum ein Mensch aus dem Balkan gewisse politische Prozesse hier nicht versteht. Das ist meine Haltung, ich denke so.

2. Denken Sie, dass die Kultur eines Volkes stark mit der Religion verknüpft ist?

Du hast auf der technischen Ebene einen Markt, da passiert die Produktion. Dann kommt eine Kulturebene, die als solche definiert vorschreibt, wie ein Mensch sich benimmt, da drückt sich die Kultur aus. Als oberste und dritte Ebene sind die sogenannten Kulte, wo alle Religionen aufstehen. Kultur und Religion einfach verbunden, aber ich würde sagen, dass die eine die andere beeinflusst. Je nachdem habe ich manchmal das Gefühl, dass Religion als solche versucht, überdominiert gewisse Sachen unter Kontrolle zu haben. Das kannst du so verstehen, dass es während der sozialistischen Ordnung im ex jugoslawischen Raum es sozusagen eine ideologische Ausrichtung gab. Alles, was nicht diesen Kodexen entsprochen hat, hat man sozusagen einfach Abseits gedrängt, verboten und gesagt: «Das gehört nicht zu unserer Haltung». Man hat zum Beispiel eine bestimmte Kleider-Vorschrift in gewissen Religionen und so widerspiegelt sie sich über die Kulturbewegungen bis zur Architektur. Das eine kann man vom anderen nicht trennen. Wir leben in ziemlich harten Zeiten mit Auseinandersetzungen, wo die Religionen etwas mehr in der politischen Welt-Szene sind. Ich würde mir wünschen, dass die Kultur ein wenig autonomer ist, aber sehr wahrscheinlich ist das nicht einfach zu erreichen. Der Einfluss der Religionen auf die Kultur ist stark. Man sollte Religion, sofern man das möchte, auch ausleben. Jeder auf seine Art und Weise. Man sollte den Menschen etwas mehr Autonomie geben, wenn jemand religiös sein will, dann soll er, aber dann soll er nicht für jede meiner Bewegungen den Wächter spielen und sagen, du hast das nicht richtig gemacht, weil meine Religion das so sagt. Du kannst diese Einflüsse nicht so auseinanderdividieren. Sie sind ständig in einem Konflikt und vernetzt zusammen. Sie wirken andauernd aufeinander.

3. Wie wichtig ist es für die Suche nach der eigenen Identität, sich einer Ethnie oder einer Religion zugehörig zu fühlen?

Enorm wichtig. Jeder Mensch muss irgendwie eine Stütze haben. Der Mensch ist irgendwie auf die Welt gekommen. Er konnte nicht durch die Geburt auswählen, in welcher Umgebung er ist. Etwas, was für uns aus dem Balkanraum vielleicht nicht schädlich wäre, ist, dass wir einfach etwas mehr von den Schweizern lernen sollten, wie diese in diesem Zusammenhang etwas weniger auffällig sind, etwas zurückhaltender. Schau mal dieses Schwingfest an. Das war eine lokale Sache und wurde zur nationalen Wichtigkeit. Man hat in der Zwischenzeit kapiert, dass Tradition wichtig ist, aber man muss das vielleicht nicht derartig aggressiv zeigen, wie wir. In St. Gallen leben 80’000 Einwohner, darunter sind 130 Nationen, Herkunftsländer sowie auch verschiedene Farben, Ethnien und Religionen aus verschiedenen Ecken dieser Welt. Wenn man sich jetzt überdimensioniert, ohne Achtung, über die anderen stellt, dann ist ein friedliches Zusammenleben ein bisschen gestört. Ich glaube, dass wir aus dem Balkanraum etwas von den Schweizern lernen sollten. Die Schweizer sollten im Punkto Tradition auch etwas von uns lernen, aber umgekehrt auch. Also es ist wichtig, klar zu sagen woher man kommt, aber gleichzeitig dies irgendwie so mitzuteilen, wie ein durchschnittlicher Schweizer das macht. Das haben wir noch nicht gelernt. Ich rede über alle, von Mazedonien bis Kroatien. Jeder meint, er ist der Schönste und das Beste und die anderen sind die Dümmsten und die Kleinsten. Man muss einfach versuchen zu lernen, das, was deins ist, wirklich zu schätzen und so rüberzubringen, dass der andere sagt: «Chapeau». Die Schweizer sagen manchmal, dass wir Jugos nicht flüstern können. Dahinter steht eine sehr feinfühlige Aussage. Man soll laut sein, aber man muss auch lernen Sachen manchmal anders mitzuteilen. Das ist meine Message.

- Glauben Sie, es ist wichtiger, sich einer Ethnie oder einer Religion zugehörig zu fühlen?

Ich war zehn Jahre lang in einer Organisation, die hiess Runder Tisch der Religion. In dieser zehnjährigen Periode konnte ich sieben Weltreligionen ziemlich nahe kennen lernen. Die Identität ist eigentlich ein Plural. Identität beinhaltet mehrere Sachen dahinter. Das zeigt genau die Schweiz als solche. Es gibt keine Schweizer Nation. Es gibt diese vier Einheiten, die einen Zusammenhang und einen Code gefunden haben, wie man das friedliche Zusammenleben gestalten kann. Wenn man sich nur auf die Religion oder nur auf Herkunft reduziert, dann ist man in meinen Augen ein ziemlich armer Mensch, aber effektiv arm. Man sollte sagen können: «Ich bin eine Muslima, ich bin eine Albanerin, ich bin aber auch eine St. Gallerin, ich bin eine Sozialpädagogin und ich bin eine super Mutter». Warum muss immer im Vordergrund stehen, ich bin eine Muslima oder ich bin eine Albanerin, und alles andere ist unwichtig? Ich bin orthodox und ich kenne Orthodoxe, die sich schlecht benehmen, wenn das einfach eine Identitätskarte sein soll, dann würde ich das nicht als normal empfinden. Deswegen finde ich Identiätsreduktion auf eine Einheit sehr gefährlich. Da entsteht ein Konfliktpotential mit jemand anderem, der sich auf eine andere Einheit reduziert. Sich mitzuteilen, wer man ist, ohne sich selbst auf ein Element zu reduzieren, ist eine Kunst.

4. Was sagen Sie zu «Ein Ausländer in der Schweiz sowie auch einer im Heimatland der Eltern»?

Wir sind Ausländer, sowohl hier als auch unten. Es ist so. Solange man pendelt, wird man damit konfrontiert. Solange man zu stark an dem Ursprung festhält und in keiner Art und Weise bereit ist, eben neben der kosovarischen Tagesschau auch 10vor10 anzuschauen, wird man hier als Mensch mit Migrationshintergrund eingeschränkt. Es gibt 700’000 Schweizer, die im Ausland leben, welche vielleicht dort 10vor10 schauen. Die sind auch sehr eng an die Schweiz gebunden. Ein Mensch fern von der Heimat braucht das. Das eigene darf man nicht vergessen, aber die lokalen Begebenheiten muss man voll akzeptieren und versuchen die Einheimischen zu verstehen. Erst dann ist etwas Neues entstanden. Du musst die Schweiz vor Augen haben. 8,5 Millionen Einwohner davon sind 2,5 Millionen Ausländer aus 150 Nationen. Wenn du 40 Jahre retour gehst, sind schon eine Million eingebürgert, wenn du vor den Ersten Weltkrieg zurückgehst, machen wir eine abstrakte Hypothese, waren nochmal eine Million schon eingebürgert. Also die Schweizer sind schon unter 51 % Ursprung «nur» schweizerisch. Alles, was wir heute haben, ist schweizerisch. Mit diesen bunten und verschiedenen Einheiten. Also das heisst so dynamisch entsteht eine neue Schweizer Gesellschaft. Trotzdem ist sie recht traditionell und konservativ. Wir, aus dem Balkanraum, sind sehr hart, entweder alles oder nichts. Da prallen zwei Systeme aufeinander und da lernt man von beiden Seiten etwas. Migration ist kein einfacher Prozess, weil ein Mensch innerlich viel überwinden muss. Dann kommt vielleicht noch eine Krankheit dazu, oder man hat seine Stelle verloren usw. Die Niederlagen, die man erlebt, versucht man auf die Schweiz zu projizieren. Wir müssen nachgeben, uns anpassen, dann werden wir weniger Ausländer hier sein, sowie auch unten. Die Tatsache, dass wir hier und unten in gewissen Konstellationen Ausländer sind, kann man nicht wegbringen.

5. Sollte man nicht besser eine Inklusion der Migranten als deren Integration anstreben?

Die Schweiz kann viel mehr für die Ausländer machen. Punkto Gelder, die man hat. Die ganze Inklusionsgeschichte, was die Forschung entdeckt hat, ist, dass Politiker zwanzig Jahre brauchen, bis sie das umsetzen. Als Beispiel nehme Ich Finnland. In Punkto Schule lebt Finnland im Kommunismus. Ich glaube, dass sie für die Schulbildung, nicht mehr Geld ausgeben als die Schweizer, aber sie haben sich anders organisiert. Ich war dort im Parlament und die Stimmrechte in Finnland wurden 1906, vor der Oktoberrevolution, eingeführt. Das Frauenstimmrecht wurde auch ziemlich früh eingeführt. Da haben sie sich anders organisiert. Sie haben es kapiert. Wenn wir es so machen, werden wir besser. Sie investieren sehr viel in Ausbildung. Hier gibt es in der Schweiz ein Problem mit einer Schicht, die kommt von gewissen Kreisen. Die Frauen dort sind gut ausgebildet und sitzen zuhause. Der Mann verdient 10’000, ist ein Bankdirektor. Die Frau hat sehr viel Zeit für die Kinder. Andere haben diese Zeit oder auch dieses Wissen nicht. Deine Eltern haben dieses Wissen, glaube ich, auch nicht. Ich selbst kann meinem Sohn nicht ein besseres Deutsch beibringen, wenn ich so rede. Ich kann über andere Sachen reden. Man hat mal gesagt, man macht einen Teil zuhause, die Hausaufgaben. Das ist falsch, weil wir Familien haben, die Migranten, die nicht in der Lage sind, ihren Kindern zu helfen. In den Bewegungen der 68er, hat man auf der Kulturebene was erreicht. Jetzt im nächsten Schritt, muss man durch Massnahmen in der Schule Kindern, die nicht so gewillt sind, ihren Durchbruch ermöglichen. Mit ein bisschen Motivation und mit einer kleinen Stütze geht das.

- Was glauben Sie, gibt es eine perfekte Integration? Wo hört die Integration auf. Bedeutet Integration, dass man jetzt zu Hause mit seinen Kindern Deutsch sprechen muss?

Ich kann sagen, dass beim Balkanraum alle zuhause serbisch oder albanisch reden. Das ist auch richtig, aber dann soll der Vater gleichzeitig mit dem Kind schweizerdeutsch sprechen. Warum ist das so ein Problem? Dann hat man die beiden Bedürfnisse gedeckt. Wenn dann die kleine Prinzessin oder der kleine Prinz vor dem Kindergarten steht, ist der völlig auf dem gleichen Level, wie die anderen schweizerischen Kinder und er hat seine Erstsprache trotzdem voll im Griff. Die Kinder leben und switchen unglaublich gut. Ich verstehe nicht, worin das Problem liegt, in einem Land, in dem es vier Landessprachen gibt, beides zu sprechen. Dann sind irgendwelche anderen schuld, wenn das Kind bei jedem Deutschtest schlecht abschneidet. Es gibt Kinder, die vielleicht dieses Problem nicht haben, aber es gibt Kinder, für die am Start nur die Erstsprache zu sprechen, eine Behinderung darstellt. Dann kommen die Lehrkräfte, die nicht gewillt sind, zu helfen. Geschweige denn, wenn jemand rassistisch geladen ist. Dann hat man einen Jungen, der blockiert ist, der sehr wahrscheinlich super intelligent und null Probleme hätte. Man produziert irgendwie auf einmal mit diesem Vorgehen ein problematisches Kind.

«Homo Helveticus» oder «Homo Balkanikus»

1. Was verstehen Sie unter dem «Homo Helveticus» und was unter dem «Homo Balkanikus»?

Bei dem Homo Helveticus hat man die Aufklärung gehabt, die Säkularisierung und eine aggressive industrielle Entwicklung durch die Weber-Philosophie, den Weberismus und eine protestantische Ideologie. Sparen, arbeiten und Ordnung halten. Wenn du das Arbeitsverhalten der Schweizer anschaust: ordnungsgemäss, zielgerichtet, Abmachung, Pünktlichkeit sind wichtig. Die Situation ist klar, wenn man abgemacht hat, dann ist man innerhalb von drei bis fünf Minuten da. Bei uns redet man immer von 15 Minuten und man kommt eine halbe Stunde später. Für den Homo Balkanikus ist Geschichte wichtig, erstmal Tee trinken, langsam, sehr flexibel, lernt auch schnell, das macht er auch gut. Er ist menschenorientiert. Da ist einmal eine Männerkultur und eine Frauenkultur. Eine harte Männerkultur sagt: zielorientiert, klare Abmachungen, man steht hinter seinem Wort. Bei uns Balkanern; wir sind flexibel, immer zu spät, menschenorientiert, langsam und Beziehung ist wichtig. Da sagt man, es ist eine Frauenkultur. Das heisst bei unseren Männern und Machos, die verkaufen sich vorne als Männer, aber verhalten sich wie Frauen. Frauen sind fleissiger bei uns im Balkan. Es gibt Unterschiede zwischen den Ländern im Balkan, aber es gibt auch gemeinsame Nenner. Der Homo Helveticus hat eine enorme industrielle Entwicklung hinter sich. Der Unterschied ist 1.5 Flugstunden, aber 150 Jahre eine andere Entwicklung. Man ist aus einer traditionellen Gesellschaft hierhergekommen, wo Geschichte enorm wichtig ist und der Schweizer sagt jetzt, lassen wir das mal bei Seite und fangen an, etwas mit den Händen zu produzieren. Das sind diese zwei Welten, die aufeinanderprallen. Manchmal kann man die nicht in Einklang bringen. Beide Systeme sind unvereinbar.

2. Wie würden Sie das Zusammenleben der beiden Formen beschreiben?

Wenn die Konflikte ausser Kontrolle geraten, dann haben wir eine nicht so gute Kombination. Die Schweiz ist nicht fähig, grosse Konflikte zu dulden, denn die haben in dieser 700-jährigen Geschichte gelernt, sehr wenige Kriege zu führen. Da haben sie gelernt, frühzeitig zu handeln und Gespräche zu führen. Anstatt die Maxime aus dem Balkanraum, entweder alles oder nichts, nichts und dann musste man immer wieder von vorne anfangen. Hier ist es umgekehrt, zuerst verhandeln, nachher streiken usw. Die Schweiz handhabt die Dinge etwas anders. Wenn du eine harte Entscheidung triffst, dann mach das, aber du kannst mir nicht delegieren. In der Schweiz braucht man längere Zeit, bis man eine finale Entscheidung hat. In dieser Zeitperiode involviert man alle wichtigen Einheiten, die für den ganzen Prozess wichtig sind, damit man die Entscheidung später tragen kann. Man braucht in diesem «Vernehmlassungs-Prozess» lang. Die ursprüngliche Idee wird vielleicht modifiziert, aber es gibt dann einen Entscheid, der von 60% der Beteiligten einfach implementiert wird. Hat man einen sofortigen harten Entscheid wird, 80% der Gesellschaft obstruieren und nicht mitmachen.

3. Gibt es nicht schon längst eine Mischform durch die Kinder der Migranten, welche die zwei Mentalitäten, zwei Weltbilder und die zwei Wertehaltungen vereinen?

Das zeigst du mit deinem ersten Satz, dass du schon in der Mischform lebst, und da versuchst du sehr gut auf beiden Seiten zu sein, das Beste von der jeweiligen Seite zu nehmen und beide Seiten kritisch zu betrachten. Die Kinder, die einen misslungenen schulischen Werdegang haben, die radikalisieren sich. Sie verstehen diese Welt nicht mehr, die können sich nicht profilieren und dann fangen die an, sich dumm zu verhalten. Ich habe mit problematischen Jugendlichen gearbeitet. Sie sind in der Tat nicht ehrlich, wenn sie sagen, Ich bin ein richtiger Serbe/Bosnier/Albaner, wenn sie hier geboren sind, weil sie sind nicht nur das. Wenn sie einen misslungenen schulischen Werdegang haben, dann sind sie frustriert. Sie stellen dann ein Problem für sich selbst und für die Gesellschaft dar.

- Glauben Sie, je misslungener der schulische Werdegang ist, desto eher verbinden sie ihre «Niederlage» mit der Schweiz.

Ja, er versucht irgendwie einen Ersatz beziehungsweise einen Schuldigen für seinen Misserfolg zu finden. Wenn er zusätzlich nicht einen normalen Job findet, welchen er mit Lust ausübt, wo er sich realisieren kann. Du merkst es sicher auch, du hast zu Hause deine Familie mit gewissen Vorgehensweisen und Traditionen. Gleichzeitig wenn du nach draussen gehst, ins Gymnasium und du hörst wie Florian Vetsch redet, triffst du eine offene Gesellschaft, die Tausende von Blumen hat. Man hat einmal diese Lebensgeschichte der Eltern, bei der es ständig um Herkunft und Traditionen geht, und dann kommt Florian, so wie er lacht, wenn du ihn siehst, dann bist du die ganze Woche glücklich. Da hörst du beide Seiten. Solange man in der Lage ist, zwischen den beiden Seiten zu pendeln und keine Berührungsängste hat, dann entdeckst du eine Methodik, wie du auf deine Eltern hörst und sagst okay, das akzeptiere ich, aber sie sind sowieso ein altes Modell. Man muss versuchen, aus dem Ganzen etwas Neues zu kreieren, dann hat man Erfolg. Das können nicht alle Jugendlichen. Diese offene Gesellschaft ist unglaublich gefährlich, hat aber enormes Potential. Nicht jeder kann sich richtig positionieren.

Jugoslawien

1. Wie definierten sich die Menschen im ehemaligen Jugoslawien? Als Jugoslawe oder als einer der jeweiligen Teilstaaten (Serbe, Kroate etc.)?

Man hat verschiedene Leute. Bis 1991 waren wir alle Jugoslawen. Es war ein Gebilde, das 100 Jahre existierte. Das war ein Projekt von den Südslawen, wo die Albaner von Anfang an nicht dabei sein wollten. Die Probleme mit dem Kosovo sind nicht mit Milošević entstanden, das ist eine Halbwahrheit. Die Konflikte sind schon viel früher entstanden. Als Jugoslawien entstanden ist, hat man die Albaner vom Kosovo einbezogen, obwohl die weder slawischer Abstammung noch eine slawische Sprache gesprochen haben. Die Bildung als solche hat eine interessante Zeitperiode. Es kam ein Bedürfnis, sich anders zu entwickeln. Selbstverwirklichung und Selbstverwaltung waren gefragt. Man wollte sich anders organisieren, dann kam dieser Zerfall und jeder ist zur eigenen Sippe gegangen. Jeder meint, dass die eigene Sippe die beste ist, aber gleichzeitig triffst du alle anderen in deiner Schule, am Arbeitsplatz und im Kindergarten. Es gibt eine Abneigung und einen gewissen Hass, den Stammeshass. Das ist eine Realität im Balkan, wir geben es einfach nicht zu. Schau mal die Serben und die Kroaten, die sind gleicher Abstammung. Schau mal die Juden und die Araber, die sind vom gleichen semitischen Stamm. Insbesondere da, wo die Unterschiede so klein sind, braucht man ständig diese Abgrenzungen, um sich selbst stärker zu machen, aber das ist okay, das ist soziologisch so in der Menschengeschichte. Alle gehen zur eigenen Sippe, was auch in Ordnung ist, aber die begegnen sich trotzdem. Im Vergleich zum Balkan haben wir in der Schweiz ein sehr harmonisches und friedliches Zusammenleben.

2. Wie stehen Sie zu dem Begriff „Jugo“? Empfinden Sie ihn als diskriminierend?

Nein, also ich kokettiere ein wenig. Ich mache das absichtlich. In Lachen war ein Quartier, auf der rechten Seite waren nur Jugos und Albaner und auf der linken Seite, mit besseren Gebäuden, die altansässigen Italiener. Sie haben etwas bessere und teurere Wohnungen. Sie sind aus der zweiten Generation. Sie haben in Lachen begonnen, aggressiv Wohnungen zu bauen. Es gibt also langsam eine Durchmischung. Die Migros da war wahrscheinlich die kleinste Migros, die du je gesehen hast und die war immer pumpen voll. Alle Schweizer haben gesagt, „Jugomigros“. Da hat es angefangen, dass sich die Migros von diesem „Jugoimage“ befreien wollte. Wir haben die gleiche Kultur und die gleiche Sprache, also habe ich angefangen, Spässe zu machen. Ich war nie ein Sozialfall, habe nie gestempelt, habe immer ordnungsgemäss gearbeitet und habe es sogar bis ins Stadtparlament geschafft. Man kann Jugo nicht immer mit einer Sache definieren. Man sollte den Begriff auch mit anderen Sachen füllen, nicht immer so einseitig. Es gibt Leute, die sagen, ich will mit dem ganzen Jugoslawien nichts zu tun haben. Ich bin ein grosser Serbe oder ein grosser Kroate. Man muss bei solchen Sachen lernen, die besser zu abstrahieren und es einfacher zu erklären.

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