Saiten, September 1999 (Jörg Krummenacher)

Sucht Lösungen dort, wo sich die Spannung konzentriert.

Seit zwölf Jahren lebt er in der Schweiz. Zuerst als Hilfsarbeiter, dann als Vetreter der Gewerkschaft Bau und Industrie. Seit drei Jahren ist er Schweizer, lebt in Uzwil. Und seit kurzem auch Vorstandsmitglied der neugeschaffenen kantonalen Arbeitsgruppe «Interkulturelles Zusammenleben», wo er auch als Fürsprecher der Kosovo-Albanerlnnen auftritt: Der serbische Politologe Vica Mitrovic.

Gegensätze zur Sprache bringen


Gespräch mit Vica Mitrovic, Vorstandsmitglied der kantonalen Arbeitsgruppe «Interkulturelles Zusammenleben»

«Mein Name ist Vica Mitrovic, und ich bin 38jährig, Politologe, SP-Mitglied, Schweizer Bürger. Ich bin ein Jugo.» Liana Ruckstuhl, St.Gallens Frau Schulvorstand, hat ihn im Mai kennengelernt. Anlass war die erste Sitzung der kantonalen Arbeitsgruppe «Interkulturelles Zusammenleben», die der Kanton nach dem Lehrermord einsetzte; ein Kollegium aus 13 Fachleuten, das sich seither mehrfach getroffen hat und nicht gewillt ist, Papier für die Schublade zu produzieren. Die zentrale Frage: Wie kann das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Zuwanderern im Rahmen der bestehenden Gesetze verbessert, wie die Integration erleichtert werden? Und vor allem: Wo liegen die Grenzen der Integration?
Ruckstuhl und Mitrovic fanden sich in einer heftigen Kontroverse zur Rolle von Frau und Mann in der Gesellschaft. «Ich erlebte ihn als beharrlichen Vertreter patriarchaler Strukturen», erinnert sich Ruckstuhl an das erste Aufeinandertreffen: «Er erklärkte uns, das Patriarchat der Einwanderer vom Balken dürfe nicht in Frage gestellt werden.» Damit, habe sie entgegnet, brauche über Integration gar nicht erst diskutiert zu werden. Denn wer in der Schweiz lebe, für den habe die Gleichstellung von Frau und Mann zu gelten.
In der Zwischenzeit trägt die Beharrlichkeit Mitrovics Früchte. «Die Kontroverse, das Aufzeigen des Gesellschafts- und Rechtsverständnisses, etwa am Beispiel der Albaner, hat eine Diskussion erst ermöglicht», sagt Ruckstuhl. «Erst jetzt kann die Arbeitsgruppe auf gemeinsamer Ebene über Integrationsansätze und -grenzen diskutieren. Durch sein fundiertes Wissen über Volksgruppen und ihr Gewohnheitsrecht wurde Mitrovic für mich zum wichtigen Mediator.»

Durch Zufall Schweizer

Vica Mitrovic wohnt in Uzwil, arbeitet in Wil, ist verheiratet, ein Kind. Zeitlebens gehört er zur Minderheit. 1961 wurde er in Ostserbien, hundert Kilometer von Belgrad, geboren, als orthodoxer Christ, in einer Gegend mit eigenem Dialekt. Er wuchs auf einem Bauernhof auf, ging nach Belgrad, um politische Wissenschaften zu studieren. Ihm missfielen Schwarz-Weiss-Malereien und die Bereitschaft, Konflikte mit letzten Mitteln zu lösen. 26jährig kam er als Tourist in die Schweiz. «Mir hat die Sauberkeit gefallen, die ersichtliche Ordnung. Das war eine neue Welt. Und die Menschen waren nett.» Er kam ohne die Absicht, zu bleiben. Doch die schlechten Aussichten, in Jugoslawien Arbeit zu finden, ausserdem die Tatsache, dass seine heimatliche Freundin bereits hier arbeitete, spielten Schicksal. Er fand eine Stelle als Hilfsarbeiter, kam zur Gewerkschaft Bau und Industrie, wurde in der SP Wil aktiv. Seit 1996 ist er Schweizer: «Die Einbürgerung war ganz einfach.» Nun könne er offen über kontroverse Dinge sprechen, werde ernst genommen, auch von den Amtsstellen.

Mitrovic, dem Intellektuellen, fiel die Eingliederung in die Schweizer Gesellschaft leichter als andern Einwanderern aus Ex-Jugoslawien, auch wenn ihn sein Akzent, sein Name noch immer als «Jugo» ausweisen, was ihn gelegentlich offenen oder versteckten Rassismus spüren lässt. Die Erfahrungen nutzt er für seine vermittelnde Rolle, fordert von beiden Seiten aktives Handeln, sucht für beide Seiten Verständnis. Beispiel erleichterte Einbürgerung: Diese sieht er als Chance für Akzeptanz, Menschenwürde und Konfliktminderung. Er zitiert die Aussage eines Landsmanns: «Ich habe meine Identität wiederhergestellt, als ich eingebürgert wurde.» Gleichzeitig versteht er die Ängste der Schweizer. «Zwischen den Anpassungswünschen der Schweizer und den Bedürfnissen der Ausländer herrscht ein konfliktreiches Spannungsfeld.

Vica Mitrovic bringt die Gegensätze zur Sprache. Denn nur dort, wo sich die Spannung konzentriere, sei auch die Lösung zu finden. Diese Haltung praktiziert er in der kantonalen Arbeitsgruppe, wohin ihn der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Integrationsfragen delegiert hat, wie auch in der täglichen Arbeit als Vertreter der Gewerkschaft Bau und Industrie in Wil. Vier Fünftel der Zeit nehme die Arbeit als Vermittler in Anspruch: zwischen Arbeitgebern und -nehmern, zwischen Partei und Gewerkschaft, zwischen Einheimischen und Fremdsprachigen.
Schwer zu verstehen, dass ausgerechnet er, der Serbe, auch als Fürsprecher der Kosovo-Albaner auftritt. Eine Frage des Respekts: «Ich versuche», sagt er, «die albanische Situation aus kritischer Distanz zu beurteilen, habe sehr gute Kontakte zu vielen Albanern.» Mehrfach kommt Mitrovic aufs Gewohnheitsrecht zu sprechen, das von Generation zu Generation überliefert werde und die Stämme des Balkans noch immer präge. Die Ehre des Mannes spiele eine grosse Rolle. Fühle sich der Mann darin verletzt, reagiere er entsprechend heftig. Es werde als Ehrverletzung betrachtet, wenn von aussen sexueller Missbrauch in der Familie angesprochen werde. Und eben: die untergeordnete Rolle der Frau. Mitrovic wertet nicht; er stellt fest. Dazu gehört der Hinweis auf die Schwierigkeit der Menschen vom Balkan, in der Schweiz eine neue Identität zu finden; entwurzelt auf der einen, (noch) nicht integriert auf der andern Seite. 85 Prozent der Ex-Jugoslawen seien anpassungsfähig oder schon angepasst. Es tue ihm leid, «dass nicht alle bereit sind, sich zu integrieren».
Mitrovic glaubt, dass der Rassismus in den nächsten Jahren noch zunehmen werde. Auf beiden Seiten fehlten bisher Konzepte zur Integration. Die Ausländervereine müssten vermehrt kulturelle Inhalte vermitteln, die Schweizer Behörden mehr Zeit zur Erklärung des hiesigen Systems aufwenden. Mitrovic hat konkrete Vorschläge: eine gezielte Medienarbeit mit Integrationsinhalten; ein Amt bei Bund und Kanton, das sich mit der Problematik umfassend auseinandersetzt; raschere Verfahren bei delinquenten Ausländern, denn mit diesen wolle der Grossteil der Migranten nichts zu tun haben.

Balkan wird wegdigitalisiert

Einen Schritt in die falsche Richtung habe jüngst die Cablecom gemacht. Der Monopolist hat angekündigt, per 6. September die seit 1995 analog aufgeschalteten Balkanprogramm nur noch digital zu verbreiten. Die Konsequenzen: Die meisten Migrantinnen können die Programme, wichtige Nabelschnur zur eigenen Kultur, nicht mehr empfangen oder müssen happige Preisaufschläge zahlen. Hinzu käme ein Decoder für 500 Franken. Vica Mitrovic versucht zusammen mit SP-Nationalrat Paul Rechsteiner, die Cablecom umzustimmen. «Notfalls», sagt Mitrovic, «werden wir den Fall bis nach Strassburg weiterziehen.» Solche und andere Fälle würden zeigen, ob sich die Schweiz zur vielgestaltigen oder zur vielgespaltenen Gesellschaft entwickeln würde.

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