St. Galler Tagblatt: 7. November 2009 (Marcel Elsener)

Balkaner im Zwiespalt


Der aus Serbien stammende St. Galler Politologe, Gewerkschafter und Lebensberater Vica Mitrovic erzählt vom Homo balcanicus und versteht sich als Brückenbauer zwischen den Kulturen der Balkan-Migranten und der Schweizer. Seine Forderung: Ein schonungslos ehrlicher Dialog.

Diesen Jugo, Milos mit Namen, gerade vierzig geworden, mit Sohn und Tochter aus zwei Ehen, muss man mögen. Obwohl er direkt aus dem Knast kommt. Dort landete er zunächst als Kreditkartenbetrüger, später wegen Drogenhandels, dann «wegen Beteiligung an organisierten Diebstählen und wegen der Anwendung brutaler Methoden beim ‹Abrechnen› mit Kumpanen, die anderer Meinung waren». Und schliesslich als Mitglied einer Clique, die sich auf den Diebstahl teurer Autos spezialisierte. Auch wenn er da nur als Fahrer arbeitete und zur Tarnung eine Beiz betrieb. Die Quittung: neun Jahre in Gefängnissen in der Schweiz, in Deutschland und Österreich.

Klischees mit doppeltem Boden

Ein Jugo also, wie er schlimmer kaum im Bilderbuch des klischierten Schreckens stehen könnte. Und «typisch Jugo» scheinen auch seine Selbstverliebtheit und seine unzähligen Frauengeschichten. Kein Wunder, ist er doch von einer «Anmut, die nur Männern aus dem Balkangebirge eigen ist; schroffe, grobe Männer voller Saft und Kraft, ihre Seelen nach dem Geschmack der Frauen geformt». Jedoch ist das nur die halbe Wahrheit – und Milos eben auch ein verletzlicher, sensibler und melancholischer Mensch, in seinen Reflexionen fähig zur Selbstkritik. Eigentlich sei er ein «klassischer Gauner, schlicht und einfach ein Dieb», bekennt er an einer Party – halt wie so viele Balkaner «mit den nassen Socken geschlagen», wie ein regionales Sprichwort das seltsam verrückte, oft unverantwortliche Benehmen seiner Leute bezeichnet. Und doch fragt er sich: «Sind wir Balkaner wirklich dermassen destruktiv? Was ist mit unserer Güte, unseren gesegneten, wunderschönen Seelen? Wo ist unsere Gastfreundschaft, unsere Hilfsbereitschaft geblieben? Unsere Aufopferung in ausweglosen Situationen?» Der solche Fragen stellt und die aufwühlende Geschichte von Milos erzählt, ist selber Balkaner und Jugo (und nennt sich selber so) – Vica Mitrovic, Serbe in St. Gallen, studierter Politologe, Gewerkschafter und SP-Politiker, vielbeschäftigter Inhaber eines Büros für Übersetzungen und Lebensberatungen aller Art für Migranten aus dem Balkan.

«Rusalka – eine Frau in Trance» heisst – etwas irreführend – sein Buch, das 2008 auf Serbisch erschienen ist und nun auf Deutsch vorliegt. In einer Mischung aus Essay und Roman, mit vielen philosophischen Monologen, versucht Mitrovic anhand der Figur des sympathischen Ex-Knastis, der in der Wohnung eines palästinensischen Freundes in Zürich neuen Tritt im Leben sucht, die Mentalität seiner «Landsleute» in der Fremde zu beschreiben. Und Verständnis zu wecken für ihr schwieriges Leben im «Providurium» der Migration.

«Die Vorläufigkeit bestimmte jedes seiner Projekte und sie definierte auch sein gesamtes Handeln», schreibt Mitrovic über Milos. Der Verlorenheit in der glänzend reichen, aber eintönigen, oft kalten Schweiz mit ihrer offenen und individualisierten Gesellschaft stellt der Autor die Aufgehobenheit im Dorf von Milos’ und seiner eigenen Kindheit – dem ostserbischen Homolje – entgegen, einer spirituell reichen Welt mit Zaubersprüchen und Liedern: «Drei Lieder hatte er mit in die Welt genommen: Rusalkas Lieder des Aufwachens aus dem Zustand der Trance, das Todeslied beim Übergang ins Jenseits und das Freudenlied, das voller erotischer Momente ist.»

So wie Tante Rusalka in ihrer Trance jeweils «irgendwo dazwischen war», zwischen Leben und Tod, zwischen Dies- und Jenseits, so sieht der Autor die Migranten «manchmal hier, manchmal dort, zerrissen zwischen Welten und Kulturen, in ein System eingezwängt, machtlos». Und ohne Kraft für die Identitätssuche. Wer immer auf der Kreuzung steht, bekommt das letztlich im Kreuz zu spüren, suggeriert Mitrovic einen Grund für jene Rückenbeschwerden, die Schweizer als «Jugo-Syndrom» bezeichneten.

An Biographien orientiert

Es habe ihn gedrängt, dieses Buch zu schreiben, und es sei «klar für Schweizer gedacht», sagt Vica Mitrovic in seinem Beratungsbüro am Fuss des St. Galler Rosenbergs. In seiner langjährigen Übersetzungstätigkeit für die Untersuchungsbehörden habe er oft die Schicksale hinter den «nackten Fakten» gesehen und über die seelische Situation der inhaftierten Migranten nachgedacht; seine Geschichte entspreche zu 60 Prozent der Wahrheit. Auch wollte er dem «homo balcanicus» auf die Spur kommen und niederschreiben, «wie Jugos funktionieren».

Seiner These nach ist der Knackpunkt vieler gescheiterter Existenzen die «Schizophrenie», in einer rationalen, materiell-zielorientierten Gesellschaft nicht mehr nach den «Kriterien weiblicher Kultur» handeln zu können, nach denen der angebliche «Jugo-Macho» nämlich funktioniere. Entwurzelt von den Traditionen und ihrer moralischen Prinzipien entledigt, übernimmt der Balkan-Mann vom Kapitalismus das egoistische Streben nach Gewinn. Weil er jedoch «Mühe mit dieser Welt der Ruhe und Ordnung» habe, schreibt Mitrovic, «infiziere» er diese mit seiner Subkultur: «Seine Philosophie war ‹balkanisch› geprägt; eine Strategie der Unterwanderung des Systems, der Nichteinhaltung der Regeln und der Umverteilung von Gütern und Reichtum im Stile eines Robin Hood.» Mitrovic, vor 20 Jahren aus Belgrad eingewandert, bezeichnet als seine Heimat «eindeutig die Schweiz» und Serbien als «bereits vergessen, was mich traurig macht». Er habe Glück gehabt, im voraus viel über die Schweiz gewusst zu haben und nicht, wie viele seiner Mit-Emigranten, «in nur eineinhalb Flugstunden zweihundert Jahre Entwicklung überspringen» zu müssen.

«Wir müssen darüber reden»

Anstelle einer zunehmend von wohlfeilen Schuldzuweisungen geprägten politischen Kultur fordert Mitrovic einen schonungslos ehrlichen Dialog. Die Balkan-Migranten müssten «endlich ihre negative Haltung zu dieser offenen Gesellschaft» ablegen und sich zur neuen Heimat bekennen. Und die Schweizer sollten die Migranten nicht als «Gastarbeiter» sehen, von denen sie sich erhofften, «dass sie irgendwann wieder zurückgehen». Sondern als politische Minderheit, deren legitime Forderungen angehört werden müssten. In diesem Sinne habe er nichts dagegen, wenn die SVP Minarette thematisiere, auch wenn der Islam der falsche Aufhänger sei, um die eigentlichen Gegensätze zu beschreiben.

Die Zeit gehöre den Migranten, die «der Geschichte eine neue Wende geben», ist Mitrovic überzeugt. Sie müssten sich nur entscheiden, wo sie und ihre Kinder leben wollen – und sich mehr Gehör verschaffen, wenn es um Fragen des Zusammenlebens, auch des staatlichen, gehe.

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